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Der syrische Teufelskreis

Niemand kann wissen, wie Syrien nach dem Ende des jetzigen Bürgerkriegs aussehen wird oder ob der Bürgerkrieg überhaupt ein Ende findet. Sollte es gelingen, Assad zu stürzen, muss das noch lange nicht das Ende des Blutvergießens bedeuten. Bei einer Nachfrage des Council on Foreign Relations bei verschiedenen Experten, wie die US-Politik in (!) Syrien aussehen solle, meinte der grundsätzlich interventionsfreudige Max Boot, Washington müsse die Seitenlinien verlassen und das Kampffeld betreten. Dazu werde es auch von Verbündeten wie der Türkei und Israel, Britannien und Frankreich, Saudi-Arabien und Katar gedrängt. In einem ersten Schritt sollten die Vereinigten Staaten eine Koalition zusammensuchen, um eine Flugverbotszone über Syrien durchzusetzen. Die USA müssten die syrische Luftverteidigung auseinander nehmen, könnten aber dann die Durchsetzung der Flugverbotszone anderen überlassen, wie es auch in Libyen der Fall gewesen sei. So würde sofort Assads wirksamstes Gewaltinstrument, die Luftwaffe, ausgeschaltet, die er vor allem im Norden verstärkt einsetze, wo er auf dem Boden die Kontrolle verloren habe.

Zugleich könne der Nachschub aus Iran über den Irak unterbunden werden. Aktionen der Rebellen könnten aus der Luft unterstützt werden. Durch Waffenlieferungen an die Rebellen könne nicht nur der Krieg abgekürzt werden, sondern auch der Einfluss auf die Rebellen verstärkt werden. Daneben müssten die US-Diplomaten und Geheimdienstoffiziere daran arbeiten, die provisorische Regierung zu stützen, die nach Assads Sturz die Macht übernähme. Es sei lebenswichtig, jetzt mit der Planung für ein Syrien nach Assad zu beginnen, wenn vermieden werden solle, dass es ein anderes Somalia -oder doch ein anderes Libyen - werde.

Der skeptische Verweis auf Libyen erstaunt, folgt Boots Drehbuch doch genau dem Vorgehen gegen das Gaddafi-Regime. Aber wenn selbst in Libyen kein befriedigendes Ergebnis herauskam, wie soll ein entsprechendes Vorgehen dann in der viel schwierigeren und komplexeren syrischen Situation zum Erfolg führen?

Interessant für die deutsche Diskussion um den Einsatz der Patriot-Batterien ist, was sich Boots von ihrer Stationierung verspricht: Wenn die USA und ihre Verbündeten nicht willens seien, die Luftwaffe über ganz Syrien einzusetzen, könnte mit ihrem Einsatz wenigstens eine begrenztere Flugverbotszone durchgesetzt werden. Die Parteien im Bundestag haben in ihrem Mandat einen solchen Einsatz ausdrücklich ausgeschlossen. Die Dynamik eines bewaffneten Konflikts wird sich an diese Vorgaben nicht unbedingt halten. In Boots Überlegungen spielen völkerrechtliche Fragen oder der UN-Sicherheitsrat ohnehin keine Rolle. Für einen Strategen wie Max Boot versteht sich das von selbst.

Europäer an die Front?

Boots aus Befürchtungen des Schlimmsten genährter optimistischer Interventionismus wird von seinen Kollegen nicht geteilt. Brian Fisherman von der New America Foundation beginnt seinen Beitrag mit der Feststellung, in Syrien werde es kein Happy End geben. Tatsächlich verspreche das wahrscheinlichste Szenario des Aufstandes gegen Assad überhaupt kein Ende, sondern eher einen langandauernden Krieg zwischen verschiedenen arabischen Rebellengruppen, den angeschlagenen, aber immer noch handlungsfähigen Überresten des Regimes, kurdischen Gruppen und Jihadisten-Organisationen. Alle negativen Effekte der US-Intervention in Libyen würden in Syrien noch schlimmer sein. Die Verweise auf Libyen à la Boot würden zwei relevantere Beispiele ignorieren: den Libanon und Irak. Diese beiden Nachbarn Syriens glichen ihm demographisch eher und die Erfahrungen dort unterstrichen die Kosten und Risiken einer militärischen US-Intervention in Bürgerkriege im Mittleren Osten. Einen mit dem Iran verbündeten, Terroristen unterstützenden Autokraten wie Assad zu stürzen, sei ein löbliches Ziel, aber ein ruhiger, geduldiger Zugang sei ein besserer und viel weniger riskanter Weg als eine offene militärische Aktion. „Direkte militärische Eingriffe der USA im Mittleren Osten waren, sind und bleiben die besten Rekrutierungsmittel von al-Qaida“, ist sich Fisherman sicher

Ed Husain, ein Spezialist des CFR for Middle Eastern Studies, kommt zum Schluss, dass die Lage in Syrien schlimmer werde, bevor sie noch schlimmer wird. Er fürchtet eine Eskalation vom Schlimmeren zum immer Schlimmeren. Der Konflikt werde sich über mehrere Jahre erstrecken. Auf beiden Seiten gebe es keine Neigung zu Kompromissen oder politischer Schlichtung. Es handle sich um einen arabischen Kampf bis zum bitteren Ende mit Kriegsverbrechen auf jeder Seite. Die Vereinigten Staaten würden effektiver und geschickter vorgehen, wenn sie über Europa und ihre Verbündeten in der Region die Führung wahrnehmen würden.

Ähnlich wie der Kollege der New America Foundation meint Andrew Tabler vom Washington Institute for Near East Policy, dass die USA es angesichts der Zersplitterung der syrischen zivilen und militärischen Opposition bald mit einem Syrien zu tun haben werden, das von verschiedensten Gruppen mit den unterschiedlichsten Führern beherrscht würde. Es könnte auch zu mehreren Syrien mit diesen Charakteristika kommen. Interventionistischer Optimismus sieht anders aus.

Keine schöne Aussicht für Europa freilich, wenn es zusammen mit Saudi-Arabien und den Golfstaaten vorgeschoben werden soll. Dabei ist Europa keineswegs unbeteiligt an der Entstehung einer Konstellation, in der es bisher nur eine Alternative zu geben scheint: Diktatur oder Bürgerkrieg. Dabei entwickelt diese Alternative eine eigene Dynamik. Bürgerkrieg und Diktatur wechseln sich nicht nur phasenweise ab, sondern verstärken sich jederzeit gegenseitig.

Imperial umkämpfte Regionen werden immer wieder in Blutbädern ertränkt. In Syrien konzentrieren sich geradezu die Hinterlassenschaft und Sprengsätze imperialer Rivalitäten. Als es dem osmanischen Reich unterworfen wurde, blieb es doch im Spannungsfeld zwischen diesem und dem Perserreich. Dann wurde es nach der Niederlage des osmanischen Reiches im ersten Weltkrieg Frankreich zugeschlagen. Im Kalten Krieg musste es eine einigermaßen unabhängige Position erst finden. Diese Suche war mit blutigen inneren Auseinandersetzungen verknüpft. Syrien steht unter der Hochspannung des Konflikts zwischen sunnitischen und schiitischen Mächten um die Vorherrschaft in der islamischen Welt. Nach dem Ende des Kalten Krieges und der Balance zwischen den beiden Supermächten droht Syrien zum Spielball regionaler und globaler Rivalitäten zu werden. Zugleich erweisen sich die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates als Teil des Problems. Sie sind unfähig durch gemeinsamen Druck einen Waffenstillstand und einen Ausgleich zu erzwingen.

Etwas Geschichte

Politik und Tagespublizistik sind oft geschichtsblind. Die Machthaber „… begannen ein Flächenbombardement, das Wohnviertel traf und Teile der zentralen Märkte der Stadt dem Erdboden gleichmachte. Fast 400 Zivilisten kamen ums Leben, darunter viele Frauen und Kinder.“ (Rogan) Es wird von Hama, der Stadt in Syrien, berichtet. Aber wir schreiben nicht das Jahr 2012, sondern das Jahr 1925. Die Pünktchen stehen nicht für die syrische Luftwaffe unter Befehl des Assad-Regimes sondern für die Franzosen, die auf einen Aufstand gegen ihre Kolonialherrschaft reagierten. Obwohl der größte Teil ihrer Truppen in Kämpfe mit aufständischen Drusen in den Bergen gebunden waren, „verfügten sie immer noch über die Luftwaffe“. Und die setzten sie massiv ein. Luftwaffe gegen Städte, Bombardierungen gegen die Zivilregierung?

Die Kriegsverbrechen des Assad-Regimes können wir als ein déjà vu vergangener Kolonialherrschaft wahrnehmen. Aber diese Vergangenheit wird nicht zuletzt in Frankreich oft verdrängt. Sonst wäre ja der draufgängerische Interventionismus eines Bernard-Henri Lévy kaum denkbar. Für ihn gibt es immerhin noch die völkerrechtliche Frage: „Wie verhält man sich zum chinesischen und vor allem zum russischen Veto?“  Die Frage bleibt rhetorisch, denn die Antwort ist schon erprobt: „Indem man so vorgeht wie die Amerikaner im Irak, also ein Hindernis ignoriert, das im Laufe der Zeit zu einer makabren Farce mutiert ist – der Präzedenzfall ist kein Ruhmesblatt, beweist aber zumindest, dass der Weg gangbar ist und dass das Argument des russischen Vetos nicht mehr als eine faule Ausrede ist.“

Seit Frankreich, dann Großbrittanien, die USA und später auch die Arabische Liga das Oppositionsbündnis als „einzigen Repräsentanten eines abgeschlachteten Volkes“ anerkannt hätten, spreche nichts dagegen, „dass wir das russische Veto unterlaufen, ein Veto, das die Geschichte zweifelsohne verurteilen wird.“ (Die Zeit 13.12.12) Was Lévy bereits vergessen zu haben scheint: Die USA haben im Falle ihres Irakkrieges nicht einfach ein russisches Veto „unterlaufen“, sondern die Mehrheit des Sicherheitsrates sabotiert einschließlich dreier Vetomächte, darunter Frankreich. Kein Ruhmesblatt, ja eher eine Schandtat, die „die Geschichte zweifelsohne verurteilen wird“, um Lévys Redeweise aufzunehmen.

Die Bombenleger, die im Irak seit Jahren schiitische Prozessionen und Moscheen terrorisieren und die Leute, die jetzt in Syrien Selbstmordanschläge ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung arrangieren, kommen doch aus der gleichen Ecke. Das Know how für Syrien wurde im von den USA besetzten Irak erworben. Bürgerkriege sind ein Abschlachten, aber ein zwei- bis mehrseitiges Abschlachten.

Die Debatte zielt nach Lévy nur noch darauf ab, ob Assad „dank oder trotz uns gehen wird, ob mit unserer Zustimmung oder gegen unseren Willen – die Debatte dreht sich also allein darum, ob der unausweichliche Sieg der Rebellen auch ein wenig unser Sieg sein wird.“ Die US-Experten fragen sich, wer eigentlich siegt, wenn denn die Rebellen siegen sollten und was dieser Sieg bedeuten könnte. Sie sind eher ratlos und beurteilen deshalb mit Ausnahme von Max Boot die Rolle der USA entsprechend zurückhaltend. Lévys penetranter Optimismus baut ganz auf den Westen und seine Intervention. Folgte man seinem Rat könnte der Westen leicht in die Rolle geraten, die Frankreich in den zwanziger Jahren in Syrien einnahm.

Noch ein Rückblick

„Die Muslimbrüder in Syrien, die von der Gerechtigkeit ihrer Sache überzeugt waren, weigerten sich mit dem Assad-Regime zu verhandeln oder Kompromisse zu schließen. ‚Wir lehnen sämtliche Formen des Despotismus ab, aus Achtung vor den eigentlichen Grundsätzen des Islam und trachten nicht nach dem Sturz des Pharao, damit ein anderer an seine Stelle tritt‘, verkündeten sie auf einem Flugblatt, das Mitte 1979 überall in Syrien verteilt wurde.“  Die Rede von Pharao verweist auf den ägyptischen Ursprung der Muslimbrüder. „Ich habe den Pharao getötet“, rief 1981 der Mörder von Anwar as-Sadat, „und ich fürchte den Tod nicht“.

In Syrien reagierten die Muslimbrüder im gleichen Jahr 1981 auf die Gräueltaten der Armee mit einer Terrorkampagne gerade auch gegen die Zivilbevölkerung: „Die  Islamisten verlegten das Schlachtfeld aus den nördlichen Städten Aleppo, Latakia und Hama in die Hauptstadt Damaskus. Sie legten eine Reihe von Bomben, die zwischen August und November desselben Jahres die syrische Hauptstadt erschütterten. Den traurigen Höhepunkt bildete am 29. November eine schwere Autobombe im Stadtzentrum, die 200 Menschen tötete und bis zu  500 verletzte – die bislang die höchste Opferzahl bei einem einzigen Bombenattentat in der arabischen Welt.“ Vielleicht lehnen die Muslimbrüder heute diese Methoden ab. Aber es sind andere Gruppen, die sie perfektionieren.

Die Zitate stammen aus Eugene Rogans "Die Araber. Eine Geschichte von Unterdrückung und Aufbruch" (Ullstein 2012). Rogan ist Direktor des Middle East Centre der Oxford University. Der Epilog erinnert an den 11. September 2001 und die Kriege, die durch ihn eröffnet wurden. Die Einleitung behandelt "Das Jahr Eins der arabischen Revolution".

Dazwischen beschreibt Rogan den eskalierenden und expandierenden Gewaltzyklus, der Nordafrika, den Nahen und Mittleren Osten immer wieder erfasst. Dass Rogan seine Geschichte der Araber erst mit der Übernahme der Herrschaft durch die Osmanen beginnen lässt, macht Sinn. Erst mit der Osmanen-Herrschaft, der Verschiebung „Von Kairo nach Istanbul“, wie das erste Kapitel betitelt ist, tritt die ganze Region in Rivalität und prekäre Partnerschaft mit den sich neu bildenden europäischen Imperien. Damit wird sie Teil des europäischen Machtsystems. Friedlicher wurde die Lage damit nicht.